Einer Studie des Instituts für Angewandte Medienwissenschaft (IAM) zufolge hat die Berichterstattung über Menschen mit psychischen Erkrankungen in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen.
Mit dem zunehmenden Bewusstsein und Interesse der Öffentlichkeit für psychische Erkrankungen, deren Ursachen und Behandlung sind skandalisierende Titelstorys die Ausnahme geworden. Dennoch ist die Berichterstattung über Menschen mit psychischen Erkrankungen nach wie vor hauptsächlich negativ.
Der Fokus liegt auf dem Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Gewalt, Straftaten und Gerichtsverfahren, sowie zwischen psychischen Erkrankungen und von der Norm abweichendem Verhalten. Eine helfende Psychiatrie und Psychotherapie sowie eine mögliche Heilung werden kaum dargestellt. Dass psychische Erkrankungen bei rechtzeitiger Erkennung und fachgerechter Behandlung auch einen günstigen Verlauf nehmen können, wird nur unzureichend vermittelt. Es entsteht das falsche Bild eines quasi unausweichlich in den Suizid, in soziale Konflikte oder gar Straftaten führenden Krankheitsverlaufs.
Untersuchungen des Robert Koch-Instituts zufolge erkrankt jeder dritte Mensch mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung. Damit gehören seelische Erkrankungen zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland. Da sie häufig wiederkehrend oder chronisch verlaufen, haben Betroffene viele Kontakte zum Gesundheitswesen. Der Anteil der Tage, die Arbeitnehmer aufgrund psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz fehlen, hat sich von 2000 bis 2012 fast verdoppelt. Inzwischen gehen knapp 14 Prozent aller betrieblichen Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück. Psychische Erkrankungen sind heute der häufigste Grund für erkrankungsbedingte Frühberentungen, noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen. Die direkten und indirekten Kosten für die Volkswirtschaft aufgrund psychischer Störungen werden von der Bundesregierung pro Jahr auf rund 26 Milliarden Euro für den Produktionsausfall und 45 Milliarden Euro für den Ausfall der Bruttowertschöpfung geschätzt (Zahlen von 2008).
Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählen Angsterkrankungen, Depressionen sowie Alkohol- und andere Suchterkrankungen. Eine sachgerechte Behandlung führt fast immer zu einer deutlichen Besserung. Alle psychischen Erkrankungen können durch Ärzte und Psychologen erfolgreich behandelt werden – es gibt keine „nicht behandelbaren“ psychischen Erkrankungen. Selbst bei chronischen Verläufen können psychiatrische und psychotherapeutische Rehabilitationsverfahren eingetretene Behinderungen kompensieren und durch die Nutzung von sozialen Hilfen, wie beispielsweise beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahmen, eine Rückkehr an den Arbeitsplatz ermöglichen. Darstellungen des Betroffenen, der einer psychischen Erkrankung hilflos ausgesetzt ist, befördern die oft schon krankheitsbedingt negative Einstellung mancher Betroffenen gegenüber Hilfsmaßnahmen und führen dazu, dass effektive Hilfe verspätet oder gar nicht in Anspruch genommen wird. Dies gilt explizit auch für „schwere“ psychische Erkrankungen wie die Schizophrenie – bei der ein Drittel der Betroffenen entweder nur eine vorübergehende Krankheitsepisode erleidet oder einen Verlauf mit wiederkehrenden Episoden aufweist, zwischen denen es immer wieder zu einer kompletten Gesundung kommt.
Menschen mit psychischer Erkrankung werden insgesamt nicht häufiger, aber auch nicht wesentlich seltener zu Gewalttätern als psychisch Gesunde. Tatsächlich werden psychisch Erkrankte aber häufiger selbst zu Opfern von Übergriffen als die Vergleichsgruppe der Durchschnittsbevölkerung. Ein Drittel aller Menschen, die zum Beispiel bei Polizeieinsätzen ums Leben kommen, ist psychisch krank und nicht gewalttätig gewesen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen sprechen heute immer häufiger über ihre Erfahrungen. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung jedoch würde einen Menschen, der an Schizophrenie erkrankt ist, nicht ihren Freunden vorstellen. Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung führen dazu, dass sich Menschen sehr spät oder gar nicht in Behandlung begeben. Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland werden viele der von einer psychischen Störung Betroffenen nicht behandelt. Eine ausbleibende oder verspätete Diagnostik und Therapie tragen aber entscheidend zur Chronifizierung psychischer Störungen bei. Die fehlende Inanspruchnahme der im Versorgungssystem ausreichend und niedrigschwellig zur Verfügung stehenden Hilfen bei psychischen Störungen dürfte in nicht wenigen Fällen auch eine Rolle bei Suizidentscheidungen der Betroffenen spielen. Insgesamt starben in Deutschland im Jahr 2012 mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen. Es gilt, Stigmatisierung der Betroffenen, der Behandlungseinrichtungen oder der dort Tätigen zu vermeiden und dadurch verursachte Hemmnisse der Inanspruchnahme von Hilfen durch eine überzeichnende journalistische Darstellungsweise nicht weiter zu verstärken.
Maßnahmen der primären Prävention wie zum Beispiel das Erlernen von Stressbewältigungsverfahren, aber auch die Früherkennung von psychischen Störungen sind wichtige Faktoren, um psychische Erkrankungen schon in der Entstehungsphase zu verhindern oder das Voranschreiten in frühen Erkrankungsphasen aufzuhalten. Diese Maßnahmen setzen aber voraus, dass psychische Erkrankungen genauso wie körperliche Erkrankungen als sozial anerkanntes und ernst zu nehmendes Gesundheitsrisiko betrachtet und nicht tabuisiert werden.
Berichterstattungen über Suizide – insbesondere, wenn sie detaillierte Beschreibungen der Suizidmethode enthalten oder besonders groß aufgemacht werden – führen häufig zu Nachahme-Suiziden („Werther-Effekt“). Eindrücklich belegen das die Zahlen der U-Bahn-Suizide in Wien von 1980 bis 2007. Bis zum Jahr 1987 lag die Zahl der verübten Suizidversuche bei bis zu 28 im Jahr. Mit der Einführung einer zurückhaltenden und angemessenen Berichterstattung konnte die Zahl der Suizide auf unter sechs gesenkt werden und ist seitdem relativ konstant. In Deutschland ist im Pressekodex des Presserats eine entsprechende Empfehlung vorhanden (Richtlinie 8.7). Eine weitergehende Untersuchung der Berichterstattung in Medien über Suizide in Österreich ergab, dass eine Berichterstattung über Bewältigungsstrategien bei seelischen Krisen als Alternativen zum Suizid ebenfalls einen die Suizidrate senkenden Einfluss hatte.
Die Berichterstattung über Straftaten, die von Menschen mit psychischen Erkrankungen begangen wurden, macht eine besondere Sorgfalt in der journalistischen Recherche erforderlich. Zum einen ist nicht jeder psychisch Erkrankte „gefährlich“, zum anderen steht nicht jede Straftat eines Betroffenen in einem ursächlichen Zusammenhang mit seiner psychischen Erkrankung. Es ist Aufgabe der Gerichte, einen solchen Zusammenhang zu überprüfen, wozu in der Regel Gutachten von psychiatrischen Fachärzten oder von Psychologen erforderlich sind. Bis ein solcher Zusammenhang gerichtlich festgestellt wurde, sollte auch hier die „Unschuldsvermutung“ gelten. Ferner wird bei einer Straftat, die im Zustand einer psychischen Erkrankung begangen und mit verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit bewertet wurde, eine fachärztlich-psychiatrische Behandlung („Maßregel“) erforderlich. Die Behandlung im Maßregelvollzug wird von Gerichten angeordnet und in einer forensisch-psychiatrischen Maßregelvollzugseinrichtung (nicht in einer allgemeinen psychiatrischen Behandlungseinrichtung) durchgeführt. In der Berichterstattung über derartige Fälle stehen oft Fragen der Sicherheit der Allgemeinheit im Vordergrund. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Rückfallverhütung, die durch forensisch-psychiatrische Behandlungsmaßnahmen erreicht werden kann – ein Aspekt, der in der Berichterstattung über diesen Bereich der Medizin häufig zu kurz kommt.
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